Herfried Münkler: Kriegssplitter - Die Evolution der Gewalt im 20. und 21. Jahrhundert, Reinbek 2016.
Münkler analysiert hier die Entwicklung der klassischen Kriege und der sich zunehmend entwickeln-den neuen Formen der Gewaltanwendung, die mit herkömmlichen Mitteln nicht mehr in den Griff zu kriegen sind.
Er entwickelt z.B. die Theorie von den heroischen und postheroischen Gesellschaften und verknüpft diese mit demographischen Entwicklungen, also mit dem Verhältnis von Bevölkerungswachstum und Bereitschaft zur Gewaltintensität. „Im Unterschied zu den reichen Ländern der Nordhalbkugel können die Familien der Dritten Welt auch mehrere Söhne verlieren und immer noch funktionieren. Drittweltländer können Millionenarmeen junger Männer ins Feuer schicken, die als zweite oder gar vierte Söhne daheim nirgendwo wirklich gebraucht werden. Dem haben die reichen Länder, an ihrer Spitze die USA allenfalls ihre technologische Überlegenheit entgegenzusetzen, aber deren Ausspielen führt sogleich in bedrohliche moralische Paradoxien. Während die Gegner immer wieder von neuen zahllose Söhne verheizen können, weil unter ihren Kindern die nächsten Massenarmeen schon bereitstehen, riskieren die USA und ihre Verbündeten schnell jedes Ansehen, wenn durch ihre Schläge auch Kinder auf der anderen Seite getroffen werden.“
Weiter beschreibt er, das Kriege mehr und mehr zu Kriegen der Geheimdienste werden, weil diese über Informationen verfügen, die z.B. zum gezielten Einsatz von Drohnen notwendig sind, weil diese technischen Kriegsführungsmittel zunehmend den tatsächlichen Einsatz von Soldaten ablösen. Das klassische Militär ist nicht mehr unbedingt das Mittel der Wahl.
Kriege sind heute nicht mehr vorrangig Kriege um Länder, sondern zunehmend Konflikte um Waren- Datenströme. Es geht darum, Steuerungssysteme des Kontrahenten anzugreifen, um dessen politische, soziale und wirtschaftliche Ordnung zum Kollabieren zu bringen. Gegner, die sich wie z .B. al-Qaida territorial nicht fassen lassen, sind kaum dauerhaft zu besiegen, weil klassische Machtstrukturen, die auf dem Beherrschen von Staaten beruhten, nicht mehr funktionieren. Münkler schreibt dazu abschließend: „Da al-Qaida und entsprechende Nachfolgeorganisationen an kein Territorium gebunden sind, das man besetzen und dessen Ressourcen man zuverlässig unter Kontrolle bringen kann, sondern sich aus der Tiefe des sozialen Raumes heraus jederzeit neu zu formieren vermögen, werden die zu ihrer Bekämpfung entwickelten Strukturen und Fähigkeiten des Staates wohl auf Dauer gestellt werden müssen.“
Ein wirklich sehr empfehlenswertes Buch, das glänzend die schon bestehenden und sich neu entwickelnden Formen des „Krieges“ beschreibt, soweit man überhaupt noch von Kriegen im eigentlichen Sinne sprechen kann. Auch das Militär in seiner klassischen Form wird angesichts dieser Wandlung zu Recht in Frage gestellt.
Münkler ist nach meinem Eindruck zur Zeit einer der bemerkenswertesten Historiker in Deutschland, der immer wieder umfassende Darstellungen unter Berücksichtigung aller Aspekte liefert. Von ihm stammen z .B. die genauso lesenswerten Bücher:
Der große Krieg. Die Welt 1914 – 1918, Berlin 2013.
Der Dreißigjährige Krieg. Europäische Katastrophe, deutsches Trauma 1618–1648, Berlin 2017.
Grüße
Jörg
Kommentar