Schleifer von Nagold

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  • palatinat
    Systemadministrator
    • 02.01.2008
    • 881

    #1

    Schleifer von Nagold

    Hallo zusammen,

    hier ein paar Presseartikel zu der Affäre aus dem Jahr 1963.



    Ein in der Militärgeschichte ungewöhnlicher, in der Bundesrepublik einmaliger Fall hat sich ereignet: Eine ganze Kompanie ist mit Schimpf und Schande aufgelöst worden.

    Er kommt 8.25 Uhr, schreitet durch das Spalier der Polizisten und Zuschauer zur Alten Stadthalle hinauf, lacht nach rechts und grüßt nach links und ist sehr freundlich.

    Nagold Die Rekruten der 8. Gruppe der Fallschirmjäger-Ausbildungs-Kompanie 6/9 in Nagold haben Waffenausbildung am Anschußtisch.

    ZEIT: Herr Schallwig, man kennt jetzt Ihr Bild und die Anschuldigungen gegen Sie aus allen in- und ausländischen Zeitungen. Aber wir wissen über Ihre Person nur das, was wir bei Ihrer Zeugenvernehmung immer wieder hören: Jürgen Schallwig, Oberleutnant, 27 Jahre alt, verheiratet, nicht vorbestraft.

    Prozeß gegen Offiziere der Nagolder Kompanie 6/9 – Fallschirmjäger unter sich

    Immer Ärger mit den Offizieren – Den ehemaligen Rekruten-Schleifer erwartet ein neues Verfahren


    Gefreiter Hans-Dieter Raub, Gruppenführer in der Fallschirmjäger-Ausbildungskompanie 6/9 auf dem Eisberg bei Nagold, befahl dem Rekruten Volker Weidemann Gesang. Der Abiturient Weidemann konnte nicht singen - aber der Rekrut Weidemann sang, wann immer…

    In der Turnhalle der früheren Reichsarbeitsdienst-Truppführerschule Calw demonstrierte Vorturner Hans-Dieter Raub, wie Bundesdeutschlands Luftlandesoldaten »Wechselsprünge« machen, sich »im Entengang« bewegen und »Häschen hüpf!« spielen. Seine Kondition…

    Bundesverteidigungsminister von Hassel hat uns versichert, es herrsche in der Bundeswehr eine gedrückte Stimmung, der Vorkommnisse in Nagold wegen. Lassen wir beiseite, daß diese Stimmung sich bei ihm und dem Generalinspekteur Foertsch reichlich spät…

    Die Gnade fließet aus vom Throne. Das Recht ist ein gemeines Gut. Ludwig Uhland Die Bundeswehroffiziere Schallwig und Rölle werden die zweite Uhland -Zeile kaum wie der Dichter verstanden haben, als sie letzten Dienstag spät am Abend den Saal 120 des unter…

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    SPIEGEL: Herr General, es gibt eine Zentrale Dienstvorschrift der Bundeswehr mit der Nr. 11/1. Sie enthält die erste Formulierung der Leitsätze der Inneren Führung. Einer dieser Leitsätze - wie uns scheint: der wichtigste - lautet: »Die Bereitschaft zur…


    Rüde Vorgesetzte und die schlechte Stimmung bei den Soldaten alarmieren Bundeswehr-Führung und Wehrbeauftragten. *


    Gruß aus der Pfalz
  • DeltaEcho80
    Cold Warrior
    • 09.03.2013
    • 1713

    #2
    Hallo Palatinat,

    vor einiger Zeit wurde dieses Thema im NVA-Forum sehr heiß diskutiert. Leider triftete dort die Diskussion dann teilweise ins Ideologische ab ("wir haben´s schon immer gewusst, dass die BW so böse ist"), woraufhin dann eine weitere sachliche Diskussion im Sande verlief.

    Zumindest eine Frage, die sachlich diskutiert wurde, war die, ob die Auflösung der Kompanie durch den KG des II. Korps formell überhaupt rechtens war. Die Antwort war "Nein".

    Kommentar

    • palatinat
      Systemadministrator
      • 02.01.2008
      • 881

      #3
      Hallo DeltaEcho80,

      in der NVA scheint sich ähnliches ebenso zugetragen zu haben. Siehe beispielweise hier:



      Auch in anderen Armeen gibt es sicher Berichte zu ähnlichen Geschehen.

      Gruß aus der Pfalz

      Kommentar

      • DeltaEcho80
        Cold Warrior
        • 09.03.2013
        • 1713

        #4
        Hallo Palatinat,

        es ging in der damaligen Diskussion zunächst gar nicht mal um die ideologische Schiene. Ein User hat die Links zu den Dokumenten wie oben und andere Fragen zur Auflösung dieser Ausbildungskompanie 6/9 eingestellt und wollte die Vorgänge um die Auflösung etwas näher betrachten. Daraufhin hat sich dann eben die Diskussion zunächst ganz sachlich entwickelt, um dann nach ein oder zwei ideologisch eingefärbten Beiträgen falsch abzubiegen bzw. dann endgültig zu "versanden".

        Hatten wir das Thema "Nagold-Affäre" eigentlich hier im Forum schon mal durch dekliniert?
        Ich finde nichts dazu.

        Grüße
        DE

        Kommentar

        • Nemere
          Cold Warrior
          • 12.06.2008
          • 2843

          #5
          Zitat von DeltaEcho80 Beitrag anzeigen
          Hatten wir das Thema "Nagold-Affäre" eigentlich hier im Forum schon mal durch dekliniert?
          Ich finde nichts dazu.
          Ich finde auch nichts, aber wir beide hatten per E-Mail darüber diskutiert. Dein Einverständnis voraussetzend, stelle ich meine damaligen Überlegungen leicht angepasst hier ein.
          ----------------------------------------------------
          Ich nehme an, dass der Kommandierende General des II. Korps mit der Auflösung der Kompanie neben den laufenden straf- und disziplinarrechtlichen Ermittlungen ein Zeichen setzen wollte.
          Solche plakativen öffentlichen Anprangerungen ganzer Einheiten gab es in der deutschen Militärgeschichte immer wieder. So hat Friedrich der Große Regimentern, die nach seiner Meinung im Einsatz versagt haben, die Fahnen oder Uniformabzeichen wegnehmen lassen oder er hat ihnen verboten, den Regimentsmarsch zu spielen und ähnliches.
          Im 2. Weltkrieg hat der Befehlshaber der Heeresgruppe Süd, Generalfeldmarschall v. Reichenau im Januar 1942 die (fränkische) 46. Infanteriedivision wegen eines angeblichen Versagens beim Kampf gegen weit überlegene sowjetische Streitkräfte mit folgendem Befehl gemassregelt: "Ich spreche der 46. Division für das schlappe Zufassen bei der Anlandung der Russen auf der Halbinsel Kertsch sowie ihren übereilten Rückzug aus der Halbinsel die soldatischeEhre ab. Auszeichnungen und Beförderungen sind bis auf weiteres gesperrt."

          Wahrscheinlich hat sich Generalleutnant Hepp im Fall Nagold bei seinem Auflösungsbefehl an solche „Vorbilder“ erinnert.
          Interessant ist dabei die Frage, ob Hepp überhaupt die Befugnis hatte, eine Einheit aufzulösen. Einheiten werden im Normalfall vom Führungsstab der jeweiligen Teilstreitkraft in Zusammenarbeit mit der Personalführung aufgestellt oder aufgelöst, aber nicht von einem Kommandeur oder kommandierenden General. Ich bin überzeugt, wenn sich einer der von der Auflösung betroffenen Soldaten beschwert hätte oder vor das Verwaltungsgericht gezogen wäre, hätte das eine Blamage sondergleichen für Hepp gegeben.
          Man hat das wohl dadurch verhindert, dass man zwar die Ausbildungskompanie 6/9 auflöste, dafür aber am gleichen Ort die Ausbildungskompanie 3/9 aufstellte, es also faktisch nur zu Umbenennungen der Einheit, aber kaum zu Versetzungen mit Ortswechsel der betreffenden Soldaten kam.

          Ich füge den Auflösungsbefehl im Wortlaut bei.

          Literatur zu Nagold:
          Pensel, Claudia: Die Nagold-Affäre, München 2001
          Hammerich, Helmut R. / Kollmer, Dieter H. / Rink, Martin / Schlaffer, Rudolf J.: Das Heer 1950 bis 1970. Konzeption, Organisation, Aufstellung (Sicherheitspolitik und Streitkräfte der Bundesrepublik, 3) München 2006, S. 652 – 659.

          Tiefere Ursache der Vorfälle in Nagold (und anderer Vorkommnisse in der Luftlandedivision) waren sicher junge unerfahrene Ausbilder und mangelnde Dienstaufsicht. Die AusbKp 6/9 unterstand direkt dem Stab der Luftlandedivision bzw. dem Stab der Fallschirmjägerbrigade 25, eine eigentlich sinnvolle Unterstellung unter das in Nagold liegende FSchJgBtl 252 nahm man erst nach diesen Ereignissen vor.
          Hinzu kam, das gerade die 1. LL-Div stark von der damals völlig auf Drill und hirnloser Schleiferei abgestellten Ausbildung der amerikanischen „Airborne“ (Drill Instructor!) beeinflusst war und man es noch besser als die Amis machen wollte. Auch eine Rolle spielten sicherlich die äußerst schikanösen Ausbildungsmethoden der französischen „Paras“, mit denen die Luftlandedivision eine enge Partnerschaft hatte. Man übte damals in Frankreich (Mourmelon) und hatte häufig Soldaten zur französischen Luftlandeschule nach Pau abgeordnet. Die Franzosen galten damals als die NATO-Truppe mit der frischesten Kriegserfahrung, die Paras hatten bis 1962 im damals noch französischen Algerien im Partisanenkampf gegen die FLN und vorher bis 1954 in Indochina gegen die Vietminh reiche Gelegenheit gehabt, Kampferfahrung zu sammeln.
          Sicherheitsbestimmungen, die mit denen der Bundeswehr vergleichbar waren, gab es bei den Franzosen nicht, eben so wenig wie eine zeitgemäße Menschenführung. Ich habe noch 1984 den „Commando-Lehrgang“ bei der französischen Armee mitgemacht, eine achtwöchige Mischung aus Einzelkämpferlehrgang und Ausbildung in der Partisanenbekämpfung. Da gab es z.B. einen eigens eingeteilten „Monsieur le aggression“, einen Feldwebel der Fremdenlegion, der nur die Aufgabe hatte, bei Geländeläufen oder auf der Hindernisbahn den Soldaten Schwierigkeiten zu bereiten, z.B. sie stolpern zu lassen oder mit Dreckklumpen oder Ästen zu bewerfen und ähnliches. Er wartete nur mit breitem Grinsen darauf, dass ein Soldat dann durchdrehte und ihn wirklich tätlich angriff, wobei er alle Angriffe auf Grund seiner Größe und Kondition mühelos abwehren konnte und der Angreifer dann erst recht im Dreck lag.
          Von solchen Vorbildern kamen dann eben die Methoden in Nagold, nur eben bei der Bundeswehr in einer ganz anderen sozialen und rechtlichen Umgebung.

          Zum NVA-Forum:
          Ich hatte seit Ende 1990 mit NVA-Soldaten zu tun und war seit 1991 in der EX-DDR als KpChef und später als Stellv. BtlKdr eingesetzt.

          Die Behandlung der Wehrpflichtigen in der NVA war bis 1989 nach meinen Erfahrungen mehr oder weniger menschenverachtend:
          - Verkommene Kasernen mit völlig unzureichenden Sanitäranlagen. Es gab Kasernen und vor allem Übungsplätze, da konnte die Truppe höchstens einmal in der Woche nach einem festgelegten Plan zum Duschen gehen. In vielen Kasernen hatte jeder Soldat seine Waschschüssel auf dem Spind, in der er sich dann mit kaltem Wasser notdürftig reinigen konnte.
          - Es gab Kasernen, da konnten die Dachböden nicht mehr betreten werden, weil sie vollkommen verseucht von Taubenzecken, Taubenmist und Ratten waren. Die Keller der Kasernen standen teilweise unter Wasser und das Wasser kroch die Wände hoch bis in die Unterkünfte.
          - Es gab Küchen, die seit Reichswehrzeiten nicht mehr saniert worden waren, die einfach nicht mehr sauber zu bekommen waren und in denen die Kakerlaken in Paradeformationen auf den fettverschmierten Gerätschaften und Böden marschierten.
          - stundenlange sinnlose Exerzierausbildung. Die NVA hatte bis zuletzt den Parademarsch der Wehrmacht, den die Bundeswehr erst gar nicht übernommen hatte.
          - Kaum Ausgang für die Soldaten
          - extrem hohe Bereitschaftsgrade (70 % und mehr)
          - Disziplinarstrafen wegen Kleinigkeiten
          - Strafeinheiten und Militärgefängnisse (z.B. in Schwedt), in denen nachweisbar geprügelt wurde.
          - Eigene Militärgerichte und Militärstaatsanwälte außerhalb der ordentlichen Gerichtsbarkeit
          - Abartige Reservistenrituale, bei denen die jüngeren Soldatenquartale wirklich als eine Art Sklaven der „Abgänger“ dienten und bei denen es regelmäßig zu Körperverletzungen, sadistischen Handlungen und alkoholischen Exzessen kam. Bei den Russen war das allerdings noch extremer.
          - Die Vorgesetzten waren nicht in der Lage (oder auch nicht bereit), gerade diese Reservistenunarten abzustellen.
          - Ausbildungsanlagen, die wegen ihrer Gefährlichkeit sofort nach Übernahme durch die Bundeswehr stillgelegt wurden (Hindernisbahnen, Brandkampfbahnen, aber auch manche Schießplätze).

          Es gab in der NVA massenhaft Vorgänge, die denen von Nagold vergleichbar waren. Es gab immer wieder tote Wehrpflichtige, die wegen mangelnder Sicherheitsbestimmungen oder übertriebener Härte der Ausbildung verunglückten oder schwer verletzt wurden.

          Der große Unterschied war eben, das in der DDR davon nichts an die Öffentlichkeit drang und alles vertuscht wurde, während in der Bundeswehr durch freie Presse, unabhängige Justiz, Wehrbeauftragte , Kontrolle der Armee durch das Parlament usw. solche Vorfälle ans Licht kamen und verfolgt wurden.

          Mir gegenüber braucht daher kein ehemaliger NVA-Angehöriger zu behaupten, dass die Bundeswehr ein Hort von Schleiferei und Schinderei gewesen wäre. Sicher gab es solche Vorkommnisse vereinzelt, aber in der NVA waren sie allseits akzeptierter Alltag unter dem Deckmäntelchen einer harten Ausbildung zur Verteidigungsbereitschaft gegen den kapitalistischen Westen.
          -----------------------------------------

          Grüße
          Jörg
          Angehängte Dateien

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          • DeltaEcho80
            Cold Warrior
            • 09.03.2013
            • 1713

            #6
            Hallo Jörg,

            genau - wir hatten uns ausgetauscht.

            Mein Einverständnis hast du.

            Vielen Dank für die Informationen.

            Grüße
            Dietmar

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