1968 - Besetzung der Tschechoslowakei durch Truppen des Warschauer Paktes

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  • Nemere
    Cold Warrior
    • 12.06.2008
    • 2830

    #1

    1968 - Besetzung der Tschechoslowakei durch Truppen des Warschauer Paktes

    In den digitalisierten Beständen des Bundesarchivs-Militärarchiv sind auch die Kriegstagebücher des Führungsstabes des Heeres zur Besetzung der CSSR 1968 verfügbar. Besonders interessant dazu sind die Anlagebände zum Kriegstagebuch, hier sind Meldungen, Befehle und Entscheidungsgrundlagen ab dem 21.08.1968 gesammelt. Beim Lesen dieser Dokumente vor dem Hintergrund der derzeitigen Ereignisse in der Ukraine und den aktuellen Feststellungen zum Zustand der Bundeswehr bin ich schnell zu der Erkenntnis gelangt, dass es anscheinend nichts Neues unter der Sonne gibt. Die Bundeswehr hatte 1968, auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges, ähnliche Probleme wie heute:
    Zu wenig Geld, zu wenig Waffen und Gerät, zu wenig Munition, nicht einsatzbereites Gerät, zu wenig oder das falsche Personal und eine überbordende Bürokratie.

    Ich werde mal einige Dokumente aus der „heißen Phase“ im August 1968 hier bereitstellen, jeweils mit einigen Kommentaren vor dem Hintergrund heute vorliegender Erkenntnisse.

    Beginnen möchte ich mit einer offenbar am 23.08.1968 erarbeiteten chronologischen Darstellung der Lageentwicklung, erstellt anhand von Pressemitteilungen. Die roten Markierungen sind von mir.

    Bereits um 03:45 Uhr erklärt das WBK VI (Bayern), das keine besonderen Maßnahmen für die Bundeswehr angeordnet seien. Hier wäre interessant zu wissen, wer das von sich gegeben hat – vor allem, wenn offenbar diesselbe Person gleichzeitig erklärt, das man von einem Einmarsch in die CSSR noch gar keine Kenntnis habe.

    Um 06:30 Uhr verkündet der Sprecher des BMVtg, die Bundeswehr sei von den Vorgängen in der CSSR nicht allein betroffen und man werde sich so verhalten wie die übrigen NATO-Bündnispartner. Auch wieder eine inhaltslose Floskel, ohne die NATO waren damals noch viel weniger wie heute entscheidende Maßnahmen zur Verteidigung möglich, da immer noch große Teile des Besatzungsstatus galten.

    Um 08:04 Uhr leiten die bayerischen Landkreise an der tschechischen Grenze Vorbereitungen zur Flüchtlingsaufnahme ein. Hier ging es um die damaligen Landkreise Rehau, Wunsiedel, Tirschenreuth, Neustadt a.d.Waldnaab, Vohenstrauß, Oberviechtach, Waldmünchen, Kötzting, Regen, Grafenau und Wolfstein. Offenbar gab es also 1968 in Bayern eine zumindest in Ansätzen funktionierende „Zivilverteidigung“ mit entsprechenden Alarmplänen.

    Um 09:42 meldete dpa: Nach Berichten von Reisenden 3 km östlich Grenzübergang Waidhaus Panzer der SBZ. Waidhaus war der damalige Grenzübergang an der B 14 der Strecke Nürnberg – Pilsen, Autobahn gab es noch keine. Bemerkenswert an dieser Meldung sind zwei Dinge:
    - Der normale Reiseverkehr lief relativ ungehindert weiter, das blieb auch an den Folgetagen weitgehend so
    - Mit SBZ = Sowjetische Besatzungszone war im damaligen Sprachgebrauch die DDR gemeint. Bereits wenige Stunden nach Beginn der Aktion werden also angeblich Panzer der NVA an der Grenze CSSR – BRD gesichtet. Jetzt kann man natürlich skeptisch ein, ob der Reisende überhaupt in der Lage ist, einen NVA-Panzer von einem russischen Panzer zu unterscheiden. Wir werden aber in den Meldungen der Folgetage schnell sehen, dass sich der Einsatz einer größeren Anzahl von NVA-Truppen in der CSSR bestätigt und das auch die Einheiten ermittelt werden konnten. Das widerspricht der in der neueren Literatur vertretenen Behauptungen, das keine geschlossenen Einheiten der NVA bei der Aktion 1968 dabei gewesen wären.

    Ab 09:58 Uhr trifft Österreich notwendige Sicherheitsmaßnahmen, Teile des Bundesheeres wurden an die tschechische Grenze verlegt.

    Um 10:22 Uhr teilt die 7. (US) Armee mit, das die US-Truppen nicht in besonderer Alarmbereitschaft sind.

    Fortsetzung folgt.
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  • Nemere
    Cold Warrior
    • 12.06.2008
    • 2830

    #2
    Am 22.08.1968 gab es um 11:00 Uhr die erste zusammenfassende Lageorientierung des FüH (siehe Anlage).

    Hier wurde festgestellt, das der Stab der 1. Garde-Panzerarmee in KARLSBAD unter anderem auch die 11. Mot.-Schützendivision der NVA im Raum PILSEN -KRALOVICE - LEITMERITZ - KARLSBAD führte.
    Es wurde angenommen, das diese Armee auch einen Abschirmauftrag gegenüber der BRD haben dürfte. An verschiedenen Grenzübergängen wurden bereits gemeinsame Kontrollen durch Tschechen und Sowjets durchgeführt.

    Für die 20. Garde-Panzerarmee in LEITMERITZ war u.a. die 7. Panzerdivision der NVA vorgesehen, die sich aber anscheinend noch im Raum DRESDEN befand.

    Meldungen über eine Mobilmachung in Rumänien waren noch nicht bestätigt. Rumänien verfolgte 1968 auch einen von der Generallinie des Warschauer Paktes und des RGW/COMECON abweichenden Kurs, die dortige Regierung unter Ceaușescu befürchtete ein Vorgehen der UdSSR und seiner Vasallenstaaten auch gegen Rumänien.

    Angriffsabsichten gegenüber der BRD waren nicht erkennbar.
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    • DeltaEcho80
      Cold Warrior
      • 09.03.2013
      • 1706

      #3
      Vielen Dank für diese Zeitdokumente.

      Ich kann mich an eine Besichtigung des ehem. Fernmdelsektors in Bad Kötzting erinnern, bei der der Gästeführer erzählt hatte, dass 1968 bei den Abhördiensten der Luftwaffe und dem TMLD absolute Hochspannung herrschte und man 3fach verstärkte Schichten fahren musste, um den ganzen Funkverkehr auswerten zu können.

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      • Nemere
        Cold Warrior
        • 12.06.2008
        • 2830

        #4
        Zitat von DeltaEcho80 Beitrag anzeigen
        ... dass 1968 bei den Abhördiensten der Luftwaffe und dem TMLD absolute Hochspannung herrschte und man 3fach verstärkte Schichten fahren musste, um den ganzen Funkverkehr auswerten zu können.
        Das von Dir angesprochene Problem der ungenügenden Eloka-Kräfte für die Überwachung und Auswertung des Funkverkehrs war auch Thema der ersten größeren Lagebesprechung am 22.08.1968 im Verteidigungsministerium nach dem Einmarsch des WP in der CSSR. Siehe dazu beigefügte Stellungnahme von FüH für den Verteidigungsminister

        Dazu wurde von Seiten des Heeres u.a. festgestellt, dass die Nachrichtengewinnung völlig unzureichend ist. Insbesondere die seit Jahren vorgesehene Verstärkung der Heeres-Eloka wurde erst Anfang 1968 wegen Haushaltsproblemen und der deswegen vorgesehenen Stellenkürzungen für die Bundeswehr wieder zurückgestellt. Ganz konkret ging es dabei um die Aufklärungstürme für das Heer (z.B. Kornberg im Fichtelgebirge), die Aufstellung von drei Eloka-Kompanien für die Besetzung dieser Türme und die elf Eloka-Kompanien für die Heeresdivisionen sowie um entsprechende Stabs- und Führungselemente für die Auswertung (Seite 3 der Besprechungsvorlage).

        Eine entscheidende Frage nach dem 21. August 1968 war, ob Mobilmachungsmaßmahnen getroffen werden. Auf politischer Seite war hier vor allem die Eskalationsproblematik abzuwägen, im militärischen Bereich spielten eher die praktischen Fragen eine Rolle, wie sie auch in der Besprechungsvorlage erscheinen. Es stellte sich z.B. heraus, dass die materielle Mob-Ergänzung, also die Einziehung von Fahrzeugen, noch völlig ungenügend vorbereitet war. Kein LKW-Besitzer wusste damals, dass sein Laster für die Bundeswehr eingeplant war (Nr. I 4, Seite 2 der Vorlage)

        Zum 01.10.1968 war wegen der Haushaltsprobleme und der sich darauf ergebenden Stellenkürzungen beim Heer die Auflösung von 34 Ausbildungskompanien vorgesehen. Die Grundausbildung sollte dann direkt in einer Reihe von Einheiten des Feldheeres erfolgen. So war geplant, 9 PzGren- bzw. FSchJgBtl nur noch als Grundausbildungseinheiten zu verwenden und zwar sollten sämtliche Kompanien dieser Btl Ausbildungskompanien werden, so dass diese Btl mehr oder weniger komplett für den GDP-Einsatz ausgefallen wären. (Nr. II, Seite 2-3). Eine Liste der dafür vorgesehenen Btl füge ich ebenfalls bei. Diese 9 nicht mehr verfügbaren Kampftruppenbataillone hätten nach der damaligen Gliederung rechnerisch den Ausfall fast einer kompletten Division bedeutet. Hinzu kam, dass auch 2 Versorgungsbataillone und 9 weitere Transportkompanien als Grundausbildungseinheiten vorgesehen waren. Damit wäre ein erheblicher Anteil der Transportkapazität verschwunden, was wiederum Auswirkungen auf den in den Alarmkalendern vorhergesehenen Munitionstransport von den Depots in die GDP-Räume hätte.
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        • Nemere
          Cold Warrior
          • 12.06.2008
          • 2830

          #5
          23.08.1968

          Die 4. PzGrenDiv war die einzige Division der Bundeswehr, die einen Teil ihrer Garnisonen zumindest in Grenznähe zur CSSR hatte. Da noch keine Alarmmaßnahmen ausgelöst waren, war jedoch eine direkte Erd-Aufklärung durch Bundeswehrkräfte schwierig, weil immer noch der sog. „Grenzerlaß“ galt. Der Bereich ab 1 km zur Grenze durfte prinzipiell in Uniform nicht betreten werden, hier musste Zivil getragen werden (z.B. zur GDP-Erkundung oder auch für Feldjäger bei der Nachforschung nach unerlaubt abwesenden Soldaten). Auch war in diesem Bereich natürlich eine Anmeldung bei BGS / Grenzpolizei erforderlich. Es sollten nach Möglichkeit Zivilfahrzeuge verwendet werden, Das PzAufklBtl 4 konnte also keine SPz kurz oder Mungas mit Radargeräten an die Grenze vorschieben.

          Daher kamen die spärlichen Informationen aus dem direkten Informationsaustausch mit BGS oder Bayerischer Grenzpolizei. Man sollte sich die bis 1989 geltenden, nach meiner Auffassung recht verworrenen Verhältnisse bei der Überwachung der Grenzen zu DDR und CSSR vor Augen halten. Hier waren nebeneinander zuständig:
          1. Die US-Amerikaner mit ihren Border Patrols usw.  7th US-Army bzw. CENTAG
          2. Der Bundesgrenzschutz  Bundesministerium des Inneren
          3. Die Bayerische Grenzpolizei  Bayerisches Innenministerium
          4. Der Zoll  Finanzministerium
          Ob die Beobachtungen dieser vier Organisationen wirklich an einer gemeinsamen Stelle zusammengeführt und ausgewertet wurden, ist fraglich, wie auch die Ereignisse 1968 wieder einmal bewiesen.

          Dementsprechend dürftig war auch diese erste Meldung der 4. PzGrenDiv vom 23.08.1968. Klar wurde jedoch, dass die Grenzübergänge, wenn auch mit Einschränkungen, weiter geöffnet waren. Wie zu erwarten, verstärkte sich auch die Tätigkeit der Sowjetischen Militärmission (SMM) in den ostbayerischen Standorten.

          Die interne Lageorientierung des BMVg vom 23.08.1968 stellt fest:
          NVA-Kräfte in KARLSBAD und PRAG, der Reststab der 11. MotSchtzDiv (also das Nachkommando) hat sich aus dem Militärbezirk LEIPZIG abgemeldet.
          Die NVA beruft Reservisten ein, in JENA wurden anscheinend zivile Busse eingezogen, grün gestrichen und mit Rot-Kreuz-Zeichen versehen (das hätte die Bundeswehr Materielle MobErgänzung genannt).
          Angeblich hat Rumänien mobil gemacht.
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          • Nemere
            Cold Warrior
            • 12.06.2008
            • 2830

            #6
            Um ein klares Bild über die Einsatzbereitschaft der deutschen Korps zu gewinnen, wurde am 25.08.1968 das „Kriegsmeldewesen“ teilweise in Kraft gesetzt. Damit mussten zu festgelegten Zeiten Meldungen zu bestimmten Sachverhalten in einem festgelegten Format erstattet werden.
            Gefordert wurde mit Stichzeit 20:00 Uhr der „LANDSITREP“, der Auskunft über die personelle und materielle Einsatzbereitschaft gab. LANDSITREP steht für „Landforces Situation Report“.
            Nach einigen Anlaufschwierigkeiten mit unvollständigen Meldungen lief die erste Meldung mit Stichzeit 25.08.1968, 20:00 am Morgen des 26.08.1968 beim BMVg ein. LANDSITREP des II. Korps habe ich beigefügt. Die anderen Korps sind weniger interessant, weil diese 1968 keine Grenze zur CSSR hatten.

            Beim II. Korps befand sich das PiBtl 12 auf einem französischen Truppenübungsplatz, die personelle Einsatzbereitschaft des Korps lag zwischen 40 % (12. PzDiv) und 55 % bei 4. PzGrenDiv und 1. LLDiv.
            Daraus ergab sich, dass bei den Divisionen bis zu 50% der gepanzerten Kampffahrzeuge nicht besetzt werden konnten, obwohl die materielle Einsatzbereitschaft bei über 90% lag.
            Gründe für dieses personelle Fehl lagen vor allem in der Urlaubszeit. Man hatte beim II. Korps 43 Einheiten geschlossen in Urlaub geschickt, bisher gab es keine Entscheidung des Ministeriums, die Urlauber zurückzuberufen. Weitere Gründe lagen in der Abwesenheit von Soldaten zu Lehrgängen an den Truppenschulen, an der Durchführung der allgemeinen Grundausbildung in Feldverbänden und darin, das bisher keine Reservisten einberufen wurden, um die Verbände auf Kriegsstärke zu bringen.

            An Fehl von wesentlichen Material wurde gemeldet:
            - Rechengerät für M 48. Das waren keine elektronischen Rechner, sondern die damals sog. „Computer“ für die Bordkanone des M 48, mit der mechanisch bestimmte Schußwerte eingestellt wurden. Diese Rechner waren im Frühjahr 1968 zur Depotinstandsetzung abgegeben worden und bisher nicht wieder bei der Truppe eingetroffen
            - Fernschreibschlüsselgeräte
            - LKw 5 und 10 t. Hier wirkte sich die schon oben angesprochene nicht genügend vorbereitete materielle Mob.Ergänzung aus.
            - Für die Verwundetetenversorgung fehlten Blutkonserven und chirurgisches Nahtmaterial.

            Das II. Korps setzte daher seine Kampfkraft nur mit wenig mehr als der Hälfte an.
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            • Nemere
              Cold Warrior
              • 12.06.2008
              • 2830

              #7
              Vom 26.08.1968 liegt eine Übersicht über die beim Heer vorhandene Munition vor.

              Die Versorgungsrate VR (später auch als Munitionssatz bezeichnet) gibt die Menge an Munition an, die an einem Kampftag voraussichtlich aus einer Waffe verschossen wird. Bei der BMK 20 mm nimmt man 120 Schuß an, beim Kampfpanzer 7 Schuß, bei den PzAbwRaketen etwa 1,2 Schuß, beim Mörser 45 Schuß und bei der Haubitze 155 mm 55 Schuß.
              Bevorratet werden sollten grundsätzlich für jede Munitionsart 37,5 VR.

              Bei der Panzerabwehr wird es schon in einigen Bereich knapp. Die damals noch in recht großer Anzahl vor allem bei der Territorialen Verteidigung, auf dem HS 30 sowie bei Gebirgs- und Fallschirmjägern eingesetzten Leichtgeschütze sind gut bevorratet. Auch sind mit 61 VR genügend Gewehrgranaten vorhanden. Zur Erinnerung: Die meisten Gewehrschützen, unabhängig von der Truppengattung, hatten damals zwei Gewehrgranaten am Mann.
              Für die schwere PzFaust, damals die Hauptbewaffnung in den Grenadierkompanien, sind nur 30 VR vorhanden, die PzAbwRakete Cobra (Vorläufer der MILAN) liegt bei 26 VR und die SS 11 (Vorläufer HOT und TOW) bei nur 17 VR. Gründe für das Fehl bei diesen Waffen waren die hohen Kosten und die ungenügende Lagerfähigkeit dieser Munition. Die damaligen PzAbwLenkraketen waren bereits nach relativ kurzer Zeit wegen Zerfallsprozessen in den Treibladungen nicht mehr einsatzfähig.

              Auch bei den Granaten für die Bordkanone des Leopard sah es mit 16 VR finster aus.

              Bei der Artillerie fehlte es an Granaten für die 175 mm Feldkanone (M 110) der Divisionsartillerie. Bei diesen Kanonen traten bis zum Ende ihres Einsatzes bei Bundeswehr und US-Army ständig technische Probleme mit der Munition auf, deshalb hatte man sich bei der Beschaffung zurückgehalten.

              Die in der Liste aufgeführte 155 mm Kanone ist die von Lkw gezogene Kanone M-59 (anfangs noch M-2 „Long Tom“), die es noch in den Korps-Feldartilleriebataillonen gab.

              Bei den Panzerminen handelt es sich um die von Hand zu verlegende 7 kg Mine, Wurfminensperren gab es 1968 noch nicht.
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              • uraken
                Cold Warrior
                • 27.09.2008
                • 865

                #8
                Wenn ich mir das was in der Ukraine aber auch in den Weltkriegen und weiteren Konflikten wie die israelische arabischen anschaue erscheinen mir die von dir genannten Zahle sehr gering.
                Hast du Quellen wie wann auf diese Zahlen, z.B. 1,2 Panzerabwehrraketen pro Tag, kam?

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                • Nemere
                  Cold Warrior
                  • 12.06.2008
                  • 2830

                  #9
                  Diese Zahlen wurden in der Ausbildung so gelehrt. Bei der Artillerie, den Panzern und der Infanteriemunition hat man Erfahrungswerte aus dem zweiten Weltkrieg, dem Koreakrieg und damals ganz aktuell dem Sechstagekrieg Israels herangezogen. Bei den PzAbwLenk-Raketen gab es lediglich die Erfahrungen aus dem Sechstagekrieg, wo zum erstenmal diese Waffen tatsächlich zum Einsatz kamen, allerdings auch nicht in sehr großem Umfang. Diese Raketensysteme waren 1968 noch ein Unsicherheitsfaktor, weil zu wenige reale Erfahrungen vorlagen.

                  Die VR wurden immer mit allen damals vorhandenen Waffen der jeweiligen Munitionsart berechnet. Es wurden aber nie alle Waffen jeden Tag wirklich eingesetzt. Bei den Gewehren dürfte es sogar so sein, dass nur ein eher geringer Prozentsatz zum Schuß kam, weil auch nahezu jeder Soldat in der rückwärtigen Kampfzone ein Gewehr hatte, aber doch eher selten zum Schuß kam. Dann gab es auf allen Führungsebenen Reserven, die auch nicht unbedingt ständig eingesetzt wurden und daher keinen Munitionsverbrauch hatten.
                  Bei der Artillerie dagegen dürften die VR pro Geschütz tatsächlich jeden Tag verbraucht worden sein, weil die Bundeswehr normalerweise keine Artillerie in Reserve hielt.

                  Andererseits gab es zur Berechnung des Munitionsverbrauchs noch die sog. "Intensitätsfaktoren", mit der die VR multipliziert wurden. Bei den PzAbwLenkraketen betrug z.B. der Intensitätsfaktor für einen Tag in der Verteidigung oder im Angriff 3, für jeden Tag in der Verzögerung 2. D.h. in der Verteidigung ging man davon aus, das pro Waffensystem 3,6 Raketen pro Tag verbraucht wurden.

                  Ausreichende Munitionsbevorratung ist in gewisser Weise immer das Manövrieren zwischen Pest und Cholera. Es gibt Munitionsarten, die nicht unbegrenzt gelagert werden und daher nicht ohne weiteres im wünschenswerten Umfang bereitgestellt werden können. Von der Frage der benötigten Kapazitäten an Lagerflächen unter Berücksichtigung der nötigsten Sicherheitsbestimmungen mal ganz abgesehen.

                  Bei den PzAbwLenkraketen sollte man auch noch bedenken, das es sich 1968 noch um Waffen der 1. Generation handelte, die ziemlich schwierig und umständlich zu steuern waren. Es genügte NICHT, wie bei der MILAN, mit der Zieloptik den zu bekämpfenden Panzer im Visier zu behalten, sondern der Schütze musste die Rakete mit der Optik im Auge behalten, gleichzeitig den Panzer beobachten und die Rakete dann entsprechend steuern.
                  Zuletzt geändert von Nemere; 05.03.2023, 20:48.

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                  • uraken
                    Cold Warrior
                    • 27.09.2008
                    • 865

                    #10
                    Vielen Dank für die Erleuterungen.
                    Alleine wegen der Unzulänglichkeiten der ersten Generation Panzerabwehrlenkraketen hätte ich einen wesentlich höheren Verbrauch für realistisch gehalten.

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                    • Nemere
                      Cold Warrior
                      • 12.06.2008
                      • 2830

                      #11
                      Vielleicht noch ein paar Punkte, die den taktischen Einsatz der PzAbwLenk-Raketen und damit den vermutlichen Munitionsverbrauch aus Sicht des Jahres 1968 beeinflussten.
                      Man nahm damals mit guten Gründen an, dass die Raketen in vielen Fällen gar nicht zum Schuß kommen würden.
                      Die einzigen Erfahrungen mit diesen Waffen im Kriegseinsatz stammten aus dem 6-Tage Krieg Israels 1967. Dabei waren die Raketen in der Wüste eingesetzt worden, also in einem Gelände, das mit dem Gefechtsfeld in Deutschland in keiner Weise vergleichbar war.
                      Daher konnten diese Erkenntnisse nur sehr eingeschränkt übernommen werden. In Deutschland war die Landschaft auch in der norddeutschen Tiefebene, auch in der Lüneburger Heide zivilisiert, sie war von Hecken, Straßenbäumen, Weidezäunen, Freileitungen für Elektrizität oder Telefon durchzogen – alles potentielle Hindernisse für die Steuerungsdrähte der Lenkraketen.
                      Auch die Schießversuche auf den Truppenübungsplätzen waren nicht wirklich objektiv. Die Schießbahnen waren auch „leer“, sie wiesen schon aus Sicherheitsgründen keine Freileitungen oder querverlaufenden Heckenreihen auf
                      In Schleswig-Holstein kam noch das Problem der „Knicks“ hinzu, also der Felder, die von Feldsteinmauern mit darauf gepflanzten Sträuchern umgeben waren. Dadurch wurden die Kampfentfernungen für die Panzerabwehr in vielen Fällen deutlich eingeschränkt.

                      Hinzu kam, dass die damaligen Raketen eine Mindesteinsatzweite von etwa 500 m hatten, d.h. bis zu dieser Entfernung konnten sie nicht eingesetzt werden.
                      Gerade in bewaldeten Gelände oder im Mittelgebirge gab es aber die diese Mindestreichweite nicht immer. Bei der MILAN später lag die Mindestreichweite bei 75 m.

                      Eine Nachtkampffähigkeit gab es für Cobra oder SS 11 aufgrund der Steuerungstechnik damals so gut wie gar nicht.

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                      • Nemere
                        Cold Warrior
                        • 12.06.2008
                        • 2830

                        #12
                        26.08.1968

                        Die Feindlagebeurteilung der Bundeswehr nahm bis August 1968 durch entlang der bayerisch-tschechischen Grenze zu erwartende Angriffe offenbar nur eine geringe Gefährdung an, da man die Kampfkraft der tschechischen Armee nicht besonders hoch einschätzte. Man mutete dem II. Korps daher sehr große Frontbreiten zu. Diese Situation hatte sich ab dem 21.08.1969 schlagartig geändert, da nun wahrscheinlich mehr als 20 sowjetische Divisionen mit entsprechenden Armeetruppen in der CSSR standen.

                        Das II. Korps hatte damals auf dem Papier zwar fünf Divisionen, von denen aber nur die 4. PzGrenDiv vollständig aufgestellt war.
                        Der 1. (8.) Gebirgsdivision fehlten große Teile des Divisions-Feldartilleriebataillons sowie das Aufklärungsbataillon. Die Division hatte damals 2 Gebirgsjägerbrigaden und eine Panzergrenadierbrigade, war also nur teilweise mechanisiert.
                        Die 1. (9.) Luftlandedivision hatte eigentlich keine Divisionstruppen mehr und bestand in Süddeutschland faktisch nur aus der im Schwarzwald liegenden Brigade 25.
                        Die 10. Division war damals noch eine Panzergrenadierdivision. Die Brigade 28 war nur teilweise aufgestellt, so fehlten hier das Panzerbataillon, die Panzerjägerkompanie und das Panzerartilleriebataillon, das PzGrenBtl 282 war ein Ausbildungsbataillon.
                        Die 12. Panzerdivision wäre damals im V-Fall dem V. (US) Korps zugeteilt worden, der Division fehlte damals die komplette 3. Brigade sowie das Panzeraufklärungsbataillon, das ArtRgt 12 war nur teilweise aufgestellt. Bei der Brigade 35 bestand das PzGrenBtl 353 nur als Ausbildungsbataillon.

                        Der Kommandierende General des II. Korps, Generalleutnant Thilo, sah mit Recht seinen Verantwortungsbereich durch den Einmarsch der WP-Truppen in der CSSR am stärksten bedroht. Nach seiner Meinung fehlte es an entsprechenden Weisungen des BMVg, um dieser Lage gerecht zu werden. Trotz mehrfachen Drängens von seiner Seite kam nichts. Anscheinend hatte Thilo einen recht guten Draht zum damaligen Befehlshaber von CENTAG, mit dem er wahrscheinlich inoffiziell seinen Vorbefehl vom 26.08.1968 „für die Abwehr im Falle eines überraschenden Angriffs gegen die BRD“ abgestimmt hatte.

                        Ich füge diesen Befehl in zwei Ausfertigungen bei. Bei der Kopie des Schreibmaschinentextes ist leider die erste Seite durch einen daraufliegenden Notizzettel teilweise verdeckt, daher auch das entsprechende Fernschreiben mit dem vollständigen Text.

                        Das II. Korps sah die Möglichkeit eines Überraschungsangriffs ohne Vorwarnzeit und befürchtete daher, dass der befohlene VRA nicht planmässig erreichte werden könnte.
                        VRA = Vorderer Rand des Abwehrraumes, daraus wurde später der VRV.
                        Man ging davon aus, dass das Korps selbständig muss, bevor CENTAG operational command übernehmen kann.

                        Die Grenzstandorte sollten solange verteidigt werden, bis andere Befehle eintreffen. Also wie im Wilden Westen, wenn die Indianer angreifen, werden zunächst die Forts verteidigt. Sobald die Brigaden und Divisionen ihre Verbände in die Hand bekommen hatten, sollte auf Befehl unter dem Schutz von (dann erst zu bildenden) Verzögerungskräften auf einen neuen VRA ausgewichen werden.
                        An diesem neuem VRA sollte auf jeden Fall ein Vordringen des Feindes zur Fränkischen Alb und zur Donau verhindert werden.
                        Die Aufträge an die Divisionen ergeben sich aus dem Text. Die geplante Verlegung der kompletten LLBrig 25 im Lufttransport dürfte bei den damals verfügbaren Heeresfliegerkräften eher ein Wunschdenken gewesen sein.

                        Die 12. PzDiv in Unterfranken hatte das Problem, das ausgerechnet im grenznahen Standort Wildflecken u.a. eines der Ausbildungsbataillone lag, das man bei einem Überraschungsangriff überhaupt nicht einsetzen konnte. Das Verzögerungsgefecht wäre vor allem durch die Truppen in MELLRICHSTADT zu führen gewesen, dort lagen damals das PzGrenBtl 352 und das PzArtBtl 355.
                        Man wies der nur rudimentär existierenden 12. PzDiv in diesem Befehl eine Frontbreite von ca. 90 bis 100 km zu.

                        Beim Verteiler dieses Befehls fällt auf, dass man es anscheinend nicht für nötig hielt, das WBK VI mit zu beteiligen, d.h. die Zusammenarbeit mit er nationalen territorialen Organisation (VBK, VKK) und vor allem auch mit den Wallmeistern für die Nutzung der vorbereiteten Sperren wurde überhaupt nicht geklärt.

                        Dieser anscheinend nicht mit FüH im Vorfeld abgestimmte Befehl führte zwar nicht zu unmittelbaren Konsquenzen für den Generalleutnant Thilo, dürfte aber mit dazu beigetragen haben, dass er 1970 immerhin einige Monate vor seinem normalen Dienstzeitende von Helmut Schmidt in den vorzeitigen Ruhestand geschickt wurde.
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                        • Nemere
                          Cold Warrior
                          • 12.06.2008
                          • 2830

                          #13
                          27.08.1968

                          Die Lageorientierung vom 27.08.1968 ist durch eine Karte mit den vermutlichen Einsatzräumen der Besatzungstruppen ergänzt.
                          Neben den bereits in den vorhergehenden Tagen gemeldeten Divisionen der NVA
                          - 11. MotSchtzDiv im Raum EGER
                          - 7. PzDiv im Raum TABOR
                          scheinen jetzt auch Anzeichen auf die Anwesenheit der 4. MotSchtzDiv im Raum RAKONITZ hinzuweisen, allerdings scheint diese Vermutung noch verifiziert zu sein.

                          Unter den noch nicht digital freigegebenen Beständen der ehemaligen NVA im BA-MA sind einige Befehle enthalten, die den Einsatz von NVA-Truppen im August 1968 bestätigen:
                          Bestand DVW 1/12824
                          Titel : Maßnahmen zur Gewährleistung der erhöhten Gefechtsbereitschaft der NVA.- Beteiligung der NVA am Einsatz in der CSSR
                          - Befehl des Nationalen Verteidigungsrates (NVR) vom 20. Aug. 1968 zur Beteiligung der NVA am Einsatz der Vereinten Streitkräfte in der CSSR
                          - Befehl Nr. 91/68 des Ministers für Nationale Verteidigung vom 23. Aug. 1968 über die Verlegung der 11. MSD
                          - Befehl Nr. 119/68 des Ministers für Nationale Verteidigung vom 14. Okt. 1968 über die Rückverlegung der 7. PD und der 11. MSD
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                          • Dragoner
                            Cold Warrior
                            • 15.03.2008
                            • 2130

                            #14
                            Interessant, dass die Bundeswehr noch 1968 Karten verwendete, auf denen Schlesien als deutsche Ostgrenze eingezeichnet ist, die Oder-Neiße-Linie hingegen nicht.

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                            • DeltaEcho80
                              Cold Warrior
                              • 09.03.2013
                              • 1706

                              #15
                              Zitat von Dragoner Beitrag anzeigen
                              Interessant, dass die Bundeswehr noch 1968 Karten verwendete, auf denen Schlesien als deutsche Ostgrenze eingezeichnet ist, die Oder-Neiße-Linie hingegen nicht.
                              Stimmt - ist mir auf dem ersten Blick gar nicht aufgefallen.

                              Lt. Wikipedia hat die BRD allerdings die ONG erst 1970 im Grundlagenvertrag vorläufig anerkannt. Vielleicht hängt es damit zusammen.
                              Die DDR hat die ONG bereits 1950 anerkannt.

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